November 2020

„Wir haben nicht einmal - den Mittellandkanal. Das ist wirklich ein Skandal, kein Wasser zum Canal.“ So dichtete Ludwig Tellheim und ließ sein satirisches „Canal-Couplet“ vom Hamburger Musikverlag Anton J. Benjamin - hinterlegt mit einem roten  „T“ - auf eine Ansichtskarte drucken, die an den „Musikdirigenten“ Richard Karnatz in Georgsmarienhütte adressiert war. Aber: Was empörte den Sänger so?  


Tellheim textete und komponierte sein Mittellandkanal-Lied just in der Zeit, als die preußische Regierung ein ums andere Mal mit ihren Vorlagen zum Bau dieses Infrastrukturprojektes im Abgeordnetenhaus scheiterte. Schon die Durchsetzung des Dortmund-Ems-Kanals bereitete jahrelang politische Schwierigkeiten - als er schließlich am 11. August 1899 von Wilhelm II. feierlich eröffnet wurde, fehlte der Anschluss sowohl nach Westen an den Rhein als auch in Richtung Osten zur Elbe hin. Gebaut worden war lediglich ein Torso, nur ein Teilstück des projektierten „Mittellandkanals“, der als künstlicher Wasserweg die großen Ströme in Norddeutschland - Rhein, Ems, Weser und Elbe - miteinander verbinden sollte.
 
Genau fünf Tage später verweigerte das Parlament, wie schon einmal im Jahr 1883, die Zustimmung zum Weiterbau des Kanals. Rädelsführer waren allen voran die „Krautjunker“ östlich der Elbe, die befürchteten, dass ihnen durch Billigimporte von Getreide unliebsame Konkurrenz erwachsen würde. Bündnisgenossen der Großagrarier waren die oberschlesischen Montanindustriellen, die ihrerseits Konkurrenz aus dem boomenden Ruhrgebiet abwehren wollten. So kam es, dass die Mehrheit an jenem 16. August 1899 im Parlament verfehlt wurde, unter anderem durch die Gegenstimmen der so genannten „Kanalrebellen“, die ihrem König die Gefolgschaft verweigerten. Sie alle waren von Wilhelm II. als Landräte oder Regierungspräsidenten eingesetzte Beamte und zugleich aber auch Abgeordnete. Der kanalbegeisterte Wilhelm II. war so erzürnt über ihre mangelnde Loyalität, dass er diese achtzehn Herren in den Ruhestand versetzte, ihnen die Teilnahme an höfischen Zeremonien versagte, was quasi einer „Höchststrafe“ im statusbewussten Kaiserreich gleichkam, und ihnen keine Auszeichnungen mehr verlieh.
 
Auch der nächste Versuch, die Kanalbau-Vorlage durchs Parlament zu bringen, drohte zu scheitern. Deshalb löste der König und - in Personalunion - deutsche Kaiser Wilhelm II. am 2. Mai 1901 vorzeitig den preußischen Landtag auf, um einer erneuten Abstimmungsniederlage zu entgehen. Das war genau einen Monat, nachdem die Ansichtskarte abgeschickt worden war. Gleichzeitig wurde Finanzminister Johannes Franz von Miquel, der nicht nur als stärkster Protektor der Agrarjunker sondern auch als halbherziger Verfechter der Regierungsvorlage und politischer Lavierer galt, zum Rücktritt genötigt. Aber auch der Befürworter des Mittellandkanalbaus, Agrarminister Ernst von Hammerstein-Loxten, dankte ab, weil er sich die Feindschaft der Konservativen zugezogen hatte. Als Dritter im Bunde musste noch Handelsminister Ludwig Brefeld seinen Hut nehmen. Lediglich Karl Hermann Peter von Thielen als Minister der Öffentlichen Arbeiten und für das Kanalbauprojekt zuständig, durfte bleiben. Tellheim war mit seinem Canal-Couplet also brandaktuell.
 
In der Zeit um 1900 erlebte das Couplet, eine Art Nachfolge des Bänkelgesangs und Vorläufer des späteren Chansons, seinen Höhepunkt als Publikumsmagnet. In der Musik wird als Couplet (aus dem Französischen: „Zeilenpaar“) ein mehrstrophiges witzig-zweideutiges, politisches oder satirisches Lied mit markantem Refrain bezeichnet. Das Coupletvon Hermann Frey (Text) und Walter Kollo (Musik) „Immer an der Wand lang“ aus dem Jahr 1907 wurde sogar ein Welthit. Damals waren Hunderte von Coupletsängern in den Varietes und Etablissements unterwegs, doch Tellheims Komik galt als unbezahlbar („Ich sing’ täglich ein Couplet! Mindestens!“)  und seine stets aktuellen Texte verfasste er selbst, ohne dass er sich zu geschmacklosen Witzen herabließ. Er soll auch eine sehr markante, ausdrucksstarke Stimme besessen haben. Bessere Nummern konnte man, wie es in den Zeitungskommentaren hieß, auf einer Varietebühne kaum bieten. In seinem Text wird unter anderem auf das Flottengesetz von 1900 angespielt, mit dem die maritime Aufrüstung des Reiches auf den Weg gebracht worden war: „Das kostet ohne Wahl, Millionen kolossal. Und dafür ohne Qual, gibt’s Wasser allemal. Das ist wirklich ein Skandal. Wo bleibt dann der Kanal?“ Auch die Schwierigkeiten beim Bau des Panamakanals thematisierte Tellheim. Wegen Planungsmängeln, falscher geologischer Untersuchungen, schlechter Organisation, Bestechung, unzähliger technischer Schwierigkeiten und Pannen waren die Arbeiten daran 1889 eingestellt worden.
 
Erst mit der dritten Kanalvorlage im Jahr 1904 gelang der Regierung Preußens ein teilweiser Durchbruch. Mit dem „Preußischen Wasserstraßengesetz“, das am 1. April 1905 verabschiedet wurde, wurde der Weiterbau des Kanals - allerdings nicht wie geplant bis zur Elbe, sondern nur bis Hannover - sowie der Bau von Rhein-Herne-Kanal, Datteln-Hamm-Kanal und ein „Großschifffahrtsweg“ Berlin-Stettin auf den Weg gebracht. Ein letztes Mal hatten sich die ostelbischen Krautjunker durchgesetzt und den Lückenschluss bis zum märkischen Wasserstraßennetz verhindert. Der Kanal erreichte erst 1938 die Elbe unterhalb von Magdeburg, nachdem er konsequent nach Ende des Ersten Weltkrieges weiter vorangetrieben worden war.